Am World Teachers Day möchte ich alle Lehrende zum Dialog einladen, einerseits gemeinsam unsere Rolemodels, die uns zu diesem Beruf inspirierten oder ermutigten, zu ehren sowie über die eigene Rolle und Haltung als Lehrkraft zu reflektieren – denn was macht unsere Arbeit als Lehrkraft im KI-Zeitalter tatsächlich unersetzlich?
Das Paradox der KI-gestützten Individualisierung
Künstliche Intelligenz verspricht uns das, wovon wir als Lehrkräfte lange geträumt haben: individuelles Feedback für jede Schülerin, jeden Schüler – in Sekundenschnelle, präzise, differenziert. KI kann Texte korrigieren, Lernstände analysieren, personalisierte Übungen generieren. Die Versuchung, diese Effizienz zu nutzen, ist nicht nur für Lehrkräfte groß, sondern auch für Lernende. Sie können theoretisch, ohne Schriftlichkeit zu beherrschen, per Sprachbefehl prompten und dabei Texte und Bilder passend zu individualisiert erstellten Aufgaben der Lehrkräfte produzieren. Wenn wir unser Feedback an die KI delegieren, optimieren wir vielleicht die Effizienz, aber erhöhen die Gefahr für eine hohle Simulation der Lernprozesse durch KI-Nutzung: es findet eine distanzierte, entfremdete Kommunikation mittels KI-Anwendungen statt. Dabei ist das Feedback viel mehr als eine sachliche Information über den Lernstand – es ist BEZIEHUNG.
Beziehung als gesellschaftliches Fundament
Vielleicht sollten alle Bezugspersonen an dieser Stelle kurz innehalten und sich ernsthaft fragen, welchen Mehrwert wir den Jugendlichen bieten können, um sich mit uns und nicht mit den allwissenden Chatbots über die wichtigen Fragen im Leben vertrauensvoll und gemeinsam nachdenken sollten?
Jedes persönliche Gespräch über eine Herausforderung, jede ermutigende Rückmeldung im direkten Austausch, jeder Moment echter Aufmerksamkeit ist mehr als nur Informationsübermittlung. Es ist Beziehungsarbeit. Es ist das Fundament, auf dem Vertrauen, Motivation und letztlich auch gesellschaftlicher Zusammenhalt wachsen.
Die Qualität unserer zwischenmenschlichen Verhältnisse bestimmt maßgeblich, wie wir als Gesellschaft miteinander umgehen, wie wir diskutieren, wie wir Konflikte lösen. Wenn wir unsere Schülerinnen und Schüler durch KI-Feedback auf Distanz halten, berauben wir sie dieser prägenden Erfahrung: dass ein Mensch sich Zeit nimmt, zuhört, versteht und antwortet.
Die Renaissance der sokratischen Mündlichkeit
Während digitale, schriftliche Kommunikation zunehmend von KI übernommen werden kann, gewinnt die Mündlichkeit an Bedeutung. Das authentische Gespräch, der lebendige Austausch, die Kunst des Zuhörens und des nuancierten Formulierens – das sind Fähigkeiten, die in einer KI-Welt eine ganz besondere Bedeutung gewinnen.
Die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen prägt nicht nur individuelles Wohlbefinden, sondern den gesellschaftlichen Diskurs selbst. In einer Zeit zunehmender Polarisierung, in der digitale Blasen und algorithmische Empfehlungen unsere Wahrnehmung formen, wird die Schule zu einem Ort, an dem Menschen unterschiedlicher Hintergründe tatsächlich miteinander im Dialog stehen.
Als Lehrkräfte gestalten wir diese Begegnungen. Wir moderieren Gespräche, in denen Jugendliche lernen, anderen zuzuhören, Perspektiven zu wechseln, Widersprüche auszuhalten. Diese dialogische Kompetenz ist keine Nebensache – sie ist das Fundament demokratischer Gesellschaften.
Die Kunst, durch Fragen zu wahrer Erkenntnis zu führen, ist dabei keine moderne Erfindung. Bereits in der Wiege der europäischen Antike legte Sokrates mit seiner “Hebammenkunst” den Grundstein für diese pädagogische Haltung. Er verglich seine Tätigkeit metaphorisch damit, Seelen bei der Geburt ihres eigenen Wissens zu unterstützen. Sokrates belehrte seine Gesprächspartner nicht von oben herab, sondern veranlasste sie durch gezielte Fragen, ihre Gedanken selbst zu formulieren und zu überprüfen. So führte er sie zu tieferem Verständnis und selbstständigem Denken – eine Methode, die heute aktueller ist denn je.
Ich freue mich auf eure Antworten zu den folgende Fragen in Kommentaren:)
Rolle als Mentor und Begleiter:
- In welchen Bereichen meines Unterrichts setze ich auf KI-Tools – und wo investiere ich bewusst in persönliche Beziehung?
- Wie viel Zeit verwende ich für echte Gespräche mit meinen Schülerinnen und Schülern, abseits von Bewertung und Leistung?
Beziehungsqualität:
- Wie gestalte ich Feedbacksituationen so, dass sie Beziehung stärken statt nur Information liefern?
- Welche Räume schaffe ich für Dialog, der über den reinen Unterrichtsinhalt hinausgeht?
Role Models & Mentoren:
- Welche Role Models oder welcher Mentor hat mich zu diesem Beruf inspiriert – und was genau war es, das diese Person auszeichnete?
- Welche Qualitäten meiner Vorbilder möchte ich selbst verkörpern, und wo spiegeln sich diese bereits in meiner heutigen Arbeit?
Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit:
- Welchen Stellenwert hat die mündliche Kommunikation in meinem Unterricht?
- Wie bereite ich junge Menschen auf eine Welt vor, in der KI für uns denken und schreiben kann?
Zukunftsorientiertes Berufsethos:
- Was macht meine Arbeit als Lehrkraft im KI-Zeitalter unersetzlich?
Dieser Beitrag ist auch ein Teil der Blogparade #kAIneEntwertung von Joscha Falck und Anika Limburg.
