Ausgangspunkt für diesen Beitrag sind zwei Artikel:
Ein Essay von Jöran Muuß-Merholz und seine graphische Darstellung der Schulentwicklungsmöglichkeiten sowie eine tabellarische Aufzählung der Merkmale der traditionellen, persönlichen und personalisierten Bildung von Philippe Wampfler, der seine 10 Thesen der Schulentwicklung anschließend formuliert.
Die erste These lautet:
“Bildung im Kontext der Digitalität muss sich zwischen zwei Visionen entscheiden:
a) einer personalisierten Bildung, bei der Menschen Aufgaben lösen, die Maschinen ihnen stellen, die adaptiv sind und sich (im besten Fall) persönlich anfühlen, es aber nicht sind (wie die Kreise auf einer Apple Watch). Ziel: Wertschöpfung, Beispiel: Duolingo.
b) einer persönlichen Bildung, die reformpädagogisch orientiert mit digitalen Medien Beziehungen stärkt und intensiviert und den Sinn des Lernens in den Mittelpunkt stellt.”
Allerdings habe ich den Punkt 1b dieser ersten These etwas umformuliert und ausführlich erörtert:
Bei der persönlichen Bildung, die reformpädagogisch orientiert ist, steht neben dem Sinn des Lernens vor allem die Persönlichkeitsentwicklung im Mittelpunkt und nicht die plattformbasierte Fachwissenvermittlung oder die Leistung/Score in Form von Punkten. Das Ziel ist dabei möglichst wertfrei persönliche Stärken zu fördern und Schwächen zu akzeptieren bzw. zu mindern, um sich in der VUCA Welt erfolgreich zu positionieren. Digitalen Medien sind eine Grundlage, um die 4K als Grundkompetenzen flächendeckend in der Gesellschaft zu etablieren. (Neue Medien – neue Schule).
Dabei liegt die von Philippe beschriebene personalisierte Bildung in dem von Jöran vorgeschlagenen Koordinatensystem im Bereich „neue Medien, alte Schule“. Das Ziel des Lernens ist hier nach wie vor die Leistungsorientierung, auch wenn schön als Gamification verpackt und nun als Wertschöpfung betitelt. Es werden weiterhin Einzelkämpfer gefördert und ihr Wissen wird nun individuell mit Hilfe von Algorythmen optimiert. Im Grunde ist die personalisierte Bildung eine digitalisierte bzw. gamifizierte Version der traditionellen Bildung, mit gleichen Idealen, aber mit modifizierten Tools zwecks reiner Wissensvermittlung.
Die vor fast 40 Jahren formulierte Individualisierungsthese von Ulrich Beck besagt, dass jeder Mensch individuell ist und selbstbestimmt, mit Sinn fürs Leben durch die Welt gehen soll. Leider werden die aktuellen bildungspolitischen Rahmenbedingungen dieser Forderung nicht gerecht. Eine mögliche Alternative wäre dabei die Schulentwicklung, die persönliche Bildung im Sinne der Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt stellt.
Im Alltag der Jugendlichen wird die Reflexion der eigenen Stärken und Schwächen auch außerhalb der Schule vor allem in Bezug auf die Peer-Group relevant. Dabei spielen heutzutage die verschiedenen Möglichkeiten der Selbstdarstellung und Kommunikation bei Social Media eine wichtige Rolle, die allerdings im Schulkontext überwiegend vernachlässigt werden. Neben der Peer-Group geben oft die Influencer bzw. Stars & Prominente als Vorbilder eine Orientierung für die Herausbildung der Identität vor.
Nach der Schule bereitet vor allem die Entscheidung für einen Beruf die Qual der Wahl. Auch an dieser Stelle könnte die Kenntnis der eigenen Stärken und Schwächen die Entscheidung erleichtern. Dabei liegt die aktuelle Studienabbrecherquote bei ca. 30%. “Der frühe Zeitpunkt eines Studienabbruchs und der schnelle Wechsel in eine Ausbildung weisen darauf hin, dass viele junge Menschen noch nicht genau wissen, welchen Berufsweg sie einschlagen möchten“, sagte Bundesforschungsministerin Johanna Wanka bei der Präsentation der DZHW-Studie. „Das zeigt, wie wichtig eine gute Berufsorientierung bereits in der Schulzeit ist.“ Dabei ist es nicht nur Berufsorientierung, sondern bewusste Selbstreflexion, die bei der Orientierung helfen könnte.
Nach dem Studium/nach der Ausbildung wird vor allem in Vorstellungsgesprächen die Auseinandersetzung mit eigenen Stärken und Schwächen thematisiert. Moderne Assessment-Center setzten neue Maßstäbe für die Bewerber, um sie anschließend beim ausführlichen Casting auf die Eignung für die ausgeschriebene Stelle zu prüfen. (Rollenspiele, Gruppendiskussionen etc.)
Wie kann Schule die Heranwachsenden bei der Identitätsentwicklung und Berufswahlentscheidung unterstützen und nützliche Instrumente auf den Weg geben?
Und dadurch die Erkenntnis, dass der Weg das eigentliche Ziel ist.
In der Regel wird am Anfang des Schuljahres vom Lehrer ein Stoffverteilungsplan erstellt und am Ende des Schuljahres ein Zeugnis als Ergebnis aus den vorgegebenen Zielen und erbrachten Leistungen ausgestellt. Wer die Anforderungen erfüllt hat, darf weiter, ansonsten bleibt man sitzen. Die persönliche Vorlieben und Interessen der Schüler spielen eher in der Freizeit eine Rolle und weniger im Unterricht. Allein der Lehrer bestimmt, wohin die Reise im Klassenzimmer thematisch geht. Weder die Klassengemeinschaft, noch jeder einzelne an sich haben dabei großen Einfluss auf die Inhalte des Lernprozesses, geschweige denn auf die Differenzierungsmöglichkeiten, die aufgrund der unterschiedlichen Lernvoraussetzungen zwingend notwendig sind. Anbei ist ein Vorschlag für die Umsetzung der persönlichen Bildung.
Wer bin ich?
Der erste Schritt in die Richtung der Individualisierung und Differenzierung, wäre die Erstellung eines individuellen Persönlichkeitsprofils. Damit wird jeder einzelne Schüler sich über seine Vorlieben, Wünsche, Visionen, Ängste und Schwächen bewusst und reflektiert darüber. Auch über die Mediennutzung wird dabei nachgedacht: was, wie oft und warum wird im Alltag genutzt wird. Da laut Tulodziecki man davon ausgehen kann, dass “Kinder und Jugendliche vor allem Medienangebote nutzen, die ihnen in ihrer Lebenssituation eine Befriedigung von Bedürfnissen ermöglichen.” Außerdem spielen Medien eine wichtige Funktion bei der Sozialisation bzw. Identitätsbildung. Man kann auch über die Vorbilder nachdenken, die sowohl im persönlichen Kreis zum Nachahmen inspirieren, als auch durch Massenmedien bekannt sind. Auch der Vergleich des erstellten Profils mit dem Image, was in Social Media präsentiert wird, ist sicherlich spannend.
Was kann ich?
Im nächsten Schritt werden die Selbsteinschätzungen der Schüler bezüglich der Kompetenzen ermittelt: personal-emotionale, soziale-kommunikative sowie fachlich-methodische und natürlich die KMK-Kompetenzbereiche, die speziell auf die digitale Welt ausgerichtet sind. Hier können die Schüler sich mit den Anforderungen der Lehrpläne kritisch auseinandersetzen. Der klassischer Stoffverteilungsplan, der für die ganze Klasse gilt, wird dadurch individualisiert und autonom von jedem Schüler für sich ausgearbeitet.
Nach der persönlichen Einschätzung beurteilt der Lehrer von seinem Standpunkt aus die Kompetenzen der Schüler sowie eine enge Bezugsperson (Vater/Mutter). So wird die subjektive Selbsteinschätzung mit der Fremdeinschätzung verglichen und ggf. eine verzerrte Wahrnehmung festgestellt – auch seitens der Lehrer oder der Bezugspersonen. An dieser Stelle ist es wichtig, über die Ursachen der Verzerrung zu sprechen. Je nach Qualität der Umsetzung kann sich der dabei erstellte Förderplan sowohl als eine irreführende Schatzkarte entpuppen, aber auch als ein Leuchtturm, der den Lernweg und die persönliche Identitätsentwicklung wirkungsvoll begleiten kann.
Was will ich lernen?
Da wir nun versuchen, nicht in Zielen, sondern in Prozessen zu denken, müssen diese anders formuliert werden. Es muss nicht nur das Ergebnis im Mittelpunkt stehen, sondern der persönlicher Sinn dahinter und der dazu erforderliche Prozess. So werden die geplanten Maßnahmen in Einklang mit eigenen Bedürfnissen gebracht und in zwei Schritten erläutert:
- Schritt: Wunschformulierung, die beschreibt, warum bestimmte Kompetenzen/Lernschwerpunkte für mich persönlich wichtig sind.
- Schritt: Für jedes Ziel werden auch die Übungsformate/Methoden/Werkzeuge festgelegt.
Die Erarbeitung der drei Kernfragen des Formates: Was bin ich? Was kann ich? Was will ich lernen? wird vermutlich einen längeren Zeitraum am Anfang/ bzw. Mitte des Schuljahres in Anspruch nehmen. Aber auch das ist ein wichtiger Lernprozess, der einen Schutzraum braucht und eine Grundlage für das nächste Halbjahr bildet.
Das Ergebnis – ein persönlicher Förderplan wird nun mit Anforderungen der Lerngruppe verglichen. Es können Teams gebildet werden, die an Projekten arbeiten, die sowohl sehr fachspezifisch, als auch fächerübergreifend sein dürfen. Die Schüler arbeiten dabei kreativ, kooperativ und kollaborativ. Nach der Selbstbestimmungstheorie von Deci & Ryan ist an dieser Stelle mit hoher intrinsischen Motivation zu rechnen, da die Befriedigung der grundlegenden psychologischen Bedürfnisse nach Selbstbestimmung/Autonomie, Kompetenz/Wirksamkeit sowie sozialer Eingebundenheit gewährleistet ist.
Während der Umsetzung kann ein Vorgehensmodell des Projekt- und Produktmanagements namens Scrum übernomen werden, was insbesondere zur agilen Softwareentwicklung eingesetzt wird.
Die individuellen Fortschritte und Ergebnisse werden in einem Portfolio/Tagebuch/Blog o.ä. dokumentiert.
Zum Halbjahr bzw. zum Schuljahresende findet ein weiteres Lernentwicklungsgespräch zusammen mit der(n) Bezugsperson(en) statt, um die Entwicklung gemeinsam zu reflektieren und die weiteren Schritte zu planen. Dabei wird der “Förderplan” überarbeitet bzw. angepasst sowie die Anforderungen des persönlichen Profils überprüft bzw. ggf. erweitert oder gekürzt.
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Fragen, die an dieser Stelle noch offen bleiben, aber noch geklärt und erörtert werden können:
- Mit welchen analogen bzw. digitalen Vorlagen/Apps/Tools kann die Beantwortung der drei zentralen Fragen (Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich lernen?) am effizientesten umgesetzt werden?
- Was ist, wenn man in gewissen Fächern/Zielen keinen persönlichen Sinn findet? Was gehört zum Grundwissenkanon?